Der Hund der Baskervilles

   Kapitel 15

   Ein Rückblick

   Es war Ende November und Holmes und ich saßen an einem rauen und nebligen Abend vor einem lodernden Kaminfeuer in unserem Wohnzimmer in der Baker Street. Seit dem tragischen Ausgang unseres Besuchs in Devonshire war er mit zwei Fällen höchster Bedeutung beschäftigt gewesen; im ersten hatte er das abscheuliche Betragen von Colonel Upwood in Verbindung mit dem berühmten Spielkartenskandal des Nonpareil-Clubs enthüllt, im zweiten hatte er die unglückliche Madame Montpensier vor der Mordanklage gerettet, die ihr in Zusammenhang mit dem Tod ihrer Stieftochter, Mademoiselle Carere, drohte, jener jungen Dame, die, wie sich jeder erinnert, sechs Monate später wohlauf und verheiratet in New York aufgefunden wurde. Mein Freund war so guter Laune auf Grund des Erfolges in dieser Reihe so schwieriger und wichtiger Fälle, dass es mir möglich war, ihn dazu zu bringen, mit mir über Einzelheiten des Baskerville-Falls zu reden. Geduldig hatte ich auf diese Gelegenheit gewartet, denn ich wusste, dass er es niemals zuließ, dass sich Fälle überlappten und sein klarer und logischer Geist von seiner gegenwärtigen Arbeit abgelenkt würde, um sich vergangener Fälle zu erinnern. Gerade befanden Sir Henry und Dr. Mortimer sich in London, um zu der langen Reise aufzubrechen, die zur Wiederherstellung von Sir Henrys angegriffenen Nerven geplant war. Sie hatten uns am selben Nachmittag aufgesucht, so dass es nur natürlich war, über das Thema erneut zu debattieren.

   „Der ganze Ablauf der Ereignisse, vom Standpunkt des Mannes aus betrachtet, der sich Stapleton nannte, war einfach und geradlinig, obwohl uns, die wir anfangs das Motiv seiner Handlungen nicht kannten und die Fakten nur Stück für Stück erfuhren, alles äußerst verwickelt schien. Ich hatte den Vorteil zweier Unterhaltungen mit Mrs. Stapleton, und der ganze Fall ist nunmehr so vollständig aufgeklärt, dass ich mir keines Umstands bewusst bin, der für uns ein Rätsel geblieben ist. Du wirst ein paar Notizen zu dem Fall unter dem Buchstaben B in meinen Unterlagen fi nden.“

   „Vielleicht möchtest du mir freundlicherweise einen Überblick über die Ereignisse aus dem Gedächtnis geben.“

   „Sicher, doch ich kann nicht garantieren, dass ich alle Tatsachen im Kopf habe. Intensive geistige Konzentration führt seltsamerweise dazu, dass Vergangenes aus dem Gedächtnis gelöscht wird. Ein Anwalt, der alle Fakten eines bestimmten Falles im Kopf hat und mit Sachverständigen darüber diskutieren kann, wird feststellen, dass er nach einer oder zwei Wochen Verhandlungen über einen anderen Fall den vorigen wieder vergessen hat. So ersetzt auch jeder meiner Fälle vollständig den vorhergehenden, und Mademoiselle Carere hat meine Erinnerung an Baskerville Hall getrübt. Morgen kann ein anderes Problem meine Aufmerksamkeit fesseln und seinerseits die hübsche französische Dame und den widerwärtigen Upwood verdrängen. Doch was den Fall jenes Hundes anbelangt, so will ich dir die Ereignisse so gut ich kann schildern, und du wirst einspringen, wenn ich etwas vergessen habe.“

   „Meine Untersuchungen ergaben zweifelsfrei, dass das Familienporträt nicht getäuscht hat und dieser Kerl wirklich ein Baskerville war. Es handelte sich um einen Sohn von Rodger Baskerville, dem jüngeren Bruder von Sir Charles, der einen schlechten Ruf hatte und sich nach Südamerika absetzte, wo er unverheiratet gestorben sein soll. Tatsächlich hatte er jedoch geheiratet und einen Sohn, unseren Mann, dessen wirklicher Name genau wie der seines Vaters lautete. Er heiratete Beryl Garcia, eine der Schönheiten von Costa Rica, und nachdem er eine beträchtliche Summe öffentlicher Gelder veruntreut hatte, änderte er seinen Namen in Vandeleur und fl oh nach England, wo er im Osten von Yorkshire eine Schule gründete. Der Grund für diese besondere Berufswahl lag darin, dass er auf der Heimreise die Bekanntschaft eines schwindsüchtigen Lehrers gemacht und die Fähigkeiten dieses Mannes dazu genutzt hatte, um sein Unternehmen zum Erfolgt zu führen. Fraser, der Lehrer, starb jedoch bald, und die Schule, die anfangs gut lief, sank tiefer und tiefer, so dass die Vandeleurs es angebracht fanden, ihren Namen in Stapleton zu ändern. Dann brachte er die Reste seines Vermögens, seine Zukunftspläne und sein Interesse an Insektenkunde in den Süden von England. Im Britischen Museum habe ich erfahren, dass er eine anerkannte Autorität auf diesem Gebiet war und der Name Vandeleur für immer mit einem Falter verbunden bleiben wird, den er während seiner Zeit in Yorkshire als erster beschrieben hat.“

   „Nun kommen wir zu jenem Teil seines Lebens, der für uns von Interesse war. Offenbar hatte der Bursche Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass zwischen ihm und einem beträchtlichen Erbe nur zwei Leben standen. Ich vermute, dass seine Pläne nicht sonderlich ausgefeilt waren, als er nach Devonshire zog, doch dass er von Anfang an Böses vorhatte, ist aus dem Umstand zu ersehen, dass er seine Frau als seine Schwester ausgab. Die Idee, sie als Köder zu benutzen, stand ihm schon klar vor Augen, auch wenn er sich über die Einzelheiten seines Vorhabens noch nicht sicher gewesen sein mag. Am Ende wollte er jedenfalls Baskerville Hall erben und war bereit, alles dafür zu tun und jedes Risiko einzugehen. Sein erster Schritt war, sich dem Haus seiner Vorfahren so nahe wie möglich niederzulassen, der zweite, sich mit den Nachbarn und mit Sir Charles anzufreunden.“

   „Der Baronet selbst hat ihm von dem Familiengespenst erzählt und so seine eigene Todesart vorbereitet. Stapleton, wie ich ihn weiterhin nennen möchte, wusste von dem schwachen Herzen des alten Mannes und dass ein Schock ihn töten könnte. So viel hatte er von Dr. Mortimer erfahren. Außerdem hörte er, dass Sir Charles abergläubisch sei und diese Legende sehr ernst nehme. Sein erfi nderisches Hirn entwickelte umgehend eine Idee, wie der Baronet getötet werden und es doch kaum möglich sein könnte, dem wahren Mörder die Schuld nachzu208 weisen.“

   „Nachdem ihm also diese Idee gekommen war, führte er sie mit beträchtlicher Raffi nesse aus. Ein gewöhnlicher Verbrecher hätte sich mit einem wilden Hund begnügt. Dass er mit künstlichen Mitteln ein diabolisches Geschöpf aus ihm machte, war einer von Stapletons Geniestreichen. Den Hund kaufte er in London bei Ross und Mangles, der Tierhandlung in der Fulham Road. Es war der stärkste und wildeste, den sie hatten. Er brachte ihn mit der Nord-Devon-Linie hinunter und lief eine große Strecke über das Moor, um ihn ohne Aufsehen zu sich zu bringen. Wie man in das Grimpener Moor gelangt, hatte er schon bei seinen Insektenjagden gelernt, und so hatte er auch ein sicheres Versteck für den Hund gefunden. Dort kettete er ihn an und wartete auf eine Gelegenheit.

   „Doch das dauerte eine Weile. Der alte Herr war nachts nicht aus seinem Haus zu locken. Mehrmals lauerte ihm Stapleton mit dem Hund erfolglos auf. Während dieser fruchtlosen Ausfl üge wurde er, oder besser gesagt, sein Verbündeter von Bauern gesehen, so dass die Legende des Höllenhundes neue Nahrung bekam. Er hatte gehofft, dass seine Frau Sir Charles in den Untergang locken könnte, doch hier erwies sie sich als ausgesprochen eigenwillig. Sie war nicht bereit, Sir Charles zu einer sentimentalen Bindung zu verführen, die ihn seinem Feind ausliefern würde. Drohungen und, ich bedauere das sagen zu müssen, selbst Schläge konnten sie nicht umstimmen. Sie wollte damit nichts zu tun haben, und ausnahmsweise befand sich Stapleton in einer Sackgasse.“

   „Jedoch fand er durch Zufall einen Weg aus seinen Schwierigkeiten. Sir Charles, der sich mit ihm angefreundet hatte, übertrug ihm die Verantwortung für die Hilfe im Fall jener unglücklichen Mrs. Laura Lyons. Indem er sich ihr gegenüber als unverheiratet ausgab, gewann er vollständigen Einfl uss auf sie und ließ sie glauben, er werde sie heiraten, sobald sie die Scheidung von ihrem Mann erlangte. Sein Plan musste abrupt in die Tat umgesetzt werden, als er erfuhr, dass Sir Charles auf Anraten von Dr. Mortimer, dessen Meinung er selbst zu teilen vorgab, Baskerville Hall verlassen würde. Er musste sofort handeln, oder sein Opfer würde sich außerhalb seines Machtbereichs befi nden. Daher setzte er Mrs. Lyons unter Druck, diesen Brief zu schreiben, in welchem sie den alten Mann anfl ehte, sich vor seiner Abreise nach London mit ihr zu treffen. Dann hielt er sie mit einer raffi nierten Ausrede davon ab, die Verabredung einzuhalten, und hatte so die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte.“

   „Als er am Abend von Coombe Tracey zurückfuhr, hatte er Zeit genug, seinen Hund zu holen, ihn mit der teufl ischen Farbe zu bemalen und das Untier zu der Pforte zu bringen, an welcher er Sir Charles vermutete. Der von seinem Herrn aufgehetzte Hund sprang über das Tor und jagte dem unglücklichen Baronet nach, der die Taxusallee hinunter fl oh. Es muss wirklich schrecklich gewesen sein, diese riesige schwarze Kreatur mit ihren fl ammenden Lefzen und glühenden Augen in diesem düsteren Tunnel hinter sich her jagen zu sehen. Am Ende der Allee brach Sir Charles aus Angst und wegen seines Herzleidens tot zusammen. Der Hund hatte sich auf dem grasbewachsenen Rand gehalten, während der Baronet den Weg entlang gerannt war, so dass außer den Spuren von Sir Charles keine anderen zu sehen waren. Wahrscheinlich hat sich die Bestie dem still daliegenden Toten genähert, um ihn zu beschnüffeln, doch da er sich nicht mehr rührte, wandte sie sich von ihm ab. Dabei hat sie wohl die Abdrücke hinterlassen, die von Dr. Mortimer entdeckt wurden. Der Hund wurde zurückgerufen und zu seinem Unterschlupf im Grimpener Moor gebracht, und ein Rätsel blieb zurück, das die Behörden verblüffte, die Landbevölkerung in Angst versetzte und schließlich den Fall zu unserer Kenntnis brachte.“

   „So viel zum Tod von Sir Charles Baskerville. Du nimmst die teufl ische Gerissenheit wahr, denn es ist wirklich so gut wie unmöglich, dem wahren Mörder daraus einen Strick zu drehen. Der einzige Komplize, den er hatte, konnte niemals gegen ihn aussagen, und die groteske und unglaubliche Art des Plans machte ihn nur um so wirksamer. Beide der in den Fall verwickelten Frauen, Mrs. Stapleton und Mrs. Lyons, hatten einen starken Verdacht gegen Stapleton. Mrs. Stapleton wusste von seinen Absichten gegen den alten Mann und auch von der Existenz des Hundes. Mrs. Lyons hatte zwar von beidem keine Ahnung, aber ihr war klar, dass Sir Charles zur Zeit der nicht abgesagten Verabredung starb, die ansonsten nur Mr. Stapleton bekannt war. Doch standen beide Frauen unter seinem Einfl uss und er hatte von ihnen nichts zu befürchten. Die erste Hälfte der Aufgabe war vollbracht, aber der schwierigere Teil lag noch vor ihm.“

   „Möglicherweise wusste Stapleton nichts von der Existenz eines Erben in Kanada. Auf jeden Fall hat er davon sehr bald durch seinen Freund Dr. Mortimer erfahren, und dieser hat ihm auch alle Einzelheiten über die Ankunft von Henry Baskerville erzählt. Stapletons erster Plan war, diesen jungen Fremden aus Kanada vielleicht schon in London umzubringen, bevor er überhaupt erst nach Devonshire fuhr. Seit seine Frau sich geweigert hatte, Sir Charles eine Falle zu stellen, misstraute er ihr, und deshalb wagte er es nicht, sie lange allein zu lassen aus Angst, er könne seinen Einfl uss auf sie verlieren. Daher nahm er sie mit nach London. Ich habe herausgefunden, dass sie im Mexborough Private Hotel in der Craven Street wohnten, eines der Hotels, die Cartwright auf der Suche nach der Seite der Times durchforstete. Er schloss seine Frau in ihr Zimmer ein, während er, mit einem Bart verkleidet, Dr. Mortimer in die Baker Street folgte und später zum Bahnhof und ins Northumberland Hotel. Zwar hatte seine Frau eine Ahnung von seinen Plänen, doch fürchtete sie ihren Mann so sehr – diese Furcht war wegen seiner brutalen Misshandlungen wohl begründet –, dass sie es nicht wagte, Sir Henry vor den Gefahren, von denen sie wusste, zu warnen. Sie wäre ihres eigenen Lebens nicht mehr sicher gewesen, sollte dieser Brief Stapleton in die Hände fallen. So verfi el sie auf die Idee, die Wörter, wie wir wissen, aus der Zeitung auszuschneiden und die Adresse mit verstellter Schrift zu schreiben. Der Brief erreichte den Baronet und war die erste Warnung vor der Gefahr, die ihn erwartete.“

   „Es war natürlich wesentlich für Stapleton, einen persönlichen Gegenstand von Sir Henry zu ergattern, um den Hund, sofern er ihn benutzen wollte, auf dessen Fährte setzen zu können. Mit für ihn charakteristischer Promptheit und Kühnheit setzte er dies in die Tat um, und wir können davon ausgehen, dass er dazu den Schuhputzer des Hotels oder das Zimmermädchen bestochen hat. Zufällig war jedoch der erste Schuh, den er erhielt, ein noch ungetragener und daher für seine Zwecke wertloser. Daher ließ er ihn zurückbringen und einen anderen entwenden – ein sehr lehrreicher Zwischenfall, denn er bewies meinem Verstand einwandfrei, dass wir es mit einem richtigen Hund zu tun hatten, denn es konnte keine andere Erklärung dafür geben, dass ein alter und kein ungetragener Schuh benötigt wurde. Je ungewöhnlicher und grotesker ein Vorfall ist, um so sorgfältiger muss er analysiert werden, und gerade der Punkt, der einen Fall scheinbar kompliziert werden lässt, ist, wenn er genau und wissenschaftlich untersucht wird, meist derjenige, der den Fall aufklärt.“

   „Am nächsten Morgen besuchten uns unsere Freunde, beschattet von Stapleton in der Droschke. Nach seiner Kenntnis unserer Wohnung und meiner Erscheinung sowie von seinem gesamten Verhalten her neige ich zu der Ansicht, dass Stapletons Karriere als Verbrecher sich nicht auf die Baskerville- Affäre beschränkt. Es fällt auf, dass während der letzten drei Jahre vier erwähnenswerte Einbrüche im Westen getätigt wurden, bei welchen niemals ein Schuldiger verhaftet worden ist. Der letzte davon, in Folkestone Court im Mai, ist durch die Kaltblütigkeit aufgefallen, mit welcher der junge Diener, der den maskierten, allein arbeitenden Einbrecher überrascht hat, erschossen wurde. Ich habe keinerlei Zweifel, dass Stapleton auf diese Weise seine schwindenden fi nanziellen Mittel aufstockte und schon seit vielen Jahren ein gefährlicher und zu allem fähiger Mann ist.“

   „Ein Beispiel für seine Geistesgegenwart hat er uns an jenem Morgen geliefert, als er uns so erfolgreich entkommen ist und die Kühnheit besaß, mir meinen eigenen Namen durch den Kutscher zu senden. Von jenem Augenblick an war ihm klar, dass ich den Fall in London übernommen hatte und es daher für ihn dort keine Gelegenheit zu handeln gab. Daher kehrte er nach Dartmoor zurück, um auf die Ankunft des Baronets zu warten.“

   „Einen Moment“, unterbrach ich ihn. „Du hast zweifellos die Reihenfolge der Ereignisse richtig beschrieben, aber einen Punkt hast du nicht erklärt. Was wurde aus dem Hund, während sein Herr in London weilte?“

   „Dieser Frage habe ich einige Aufmerksamkeit gewidmet und er ist ohne Zweifel von Bedeutung. Es steht außer Frage, dass Stapleton einen Vertrauten gehabt haben musste, obwohl es nicht wahrscheinlich ist, dass er ihn je vollständig in seine Pläne eingeweiht hat. Es gab in Merripit House einen alten Diener namens Anthony. Seine Verbindung zu den Stapletons kann mehrere Jahre lang zurückverfolgt werden bis zu den Tagen, als er Schulleiter war, so dass dieser gewusst haben muss, dass die beiden in Wirklichkeit Mann und Frau waren. Dieser Mann ist verschwunden und hat wohl das Land verlassen. Anthony ist in England kein sehr verbreiteter Name, wohingegen Antonio in spanischen und spanisch-amerikanischen Ländern sehr geläufi g ist. Wie Mrs. Stapleton sprach auch dieser Mann gut englisch, wenn auch mit einem seltsam lispelnden Akzent. Ich habe ihn selbst beobachtet, wie er den von Stapleton markierten Weg durch das Grimpener Moor gegangen ist. Daher ist es wahrscheinlich, dass er sich in Stapletons Abwesenheit um den Hund gekümmert hat, auch wenn er womöglich nicht gewusst hat, zu welchem Zweck das Tier gebraucht wurde.“

   „Die Stapletons fuhren also zurück nach Devonshire, wohin ihnen Sir Henry und du bald folgten. Ein Wort dazu, wie mein Wissensstand zu diesem Zeitpunkt war. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich den Brief mit den aufgeklebten Wörter sehr genau nach einem Wasserzeichen untersuchte. Als ich das tat, hielt ich ihn dicht vor meine Augen, wobei mir ein leichter Parfümgeruch auffi el, der mir als ‚Weißer Jasmin‘ bekannt ist. Es gibt fünfundsiebzig Parfümarten, die ein Verbrechensexperte zu unterscheiden in der Lage sein sollte, und es gibt genug Fälle, deren Aufklärung davon abhing, dass sie sofort erkannt wurden. Der Geruch ließ auf die Gegenwart einer Dame schließen und schon begann ich an die Stapletons zu denken. So wusste ich also von der Existenz des Hundes und ahnte schon, wer der Verbrecher war, bevor wir überhaupt einen Fuß nach Devonshire gesetzt hatten.“

   „Meine Aufgabe war es nun, Stapleton zu beobachten. Es lag nun auf der Hand, dass ich dies nicht tun konnte, wenn ich mit euch zusammen war, denn er würde natürlich auf der Hut sein. Daher täuschte ich alle, dich eingeschlossen, über meine Absichten und fuhr heimlich dorthin, während mich jeder in London vermutete. Mein Ungemach war längst nicht so groß, wie du dir vorgestellt hast, doch dürfen solche trivialen Details ohnehin niemals die Untersuchung eines Falls beeinfl ussen. Die meiste Zeit über blieb ich in Coombe Tracey und nutzte die Hütte im Moor nur, wenn es angebracht war, dem Geschehen nahe zu sein. Cartwright war mit mir gekommen und in seiner Verkleidung als Junge vom Land eine große Hilfe, da ich, was Essen und saubere Wäsche betraf, von ihm abhängig war. Während ich Stapleton beobachtete, folgte Cartwright häufi g dir, so dass ich in der Lage war, alle Fäden in Händen zu halten.“

   „Wie ich dir schon gesagt habe, erreichten mich deine Berichte rasch, indem sie umgehend aus der Baker Street nach Coombe Tracey weitergeleitet wurden. Sie leisteten mir große Dienste, vor allem jenes zufällig wahre Stück aus Stapletons Biografi e. So konnte ich die tatsächliche Identität der beiden feststellen und wusste daher genau, woran ich war. Der Fall wurde allerdings beträchtlich erschwert durch den entfl ohenen Sträfl ing und die Verbindung zwischen ihm und den Barrymores, aber das hast du ja auch auf sehr effi ziente Weise aufgeklärt, auch wenn ich durch meine eigenen Beobachtungen schon zu demselben Schluss gekommen war.“

   „Zu dem Zeitpunkt, da du mich im Moor entdeckt hast, hatte ich umfassende Kenntnis der ganzen Angelegenheit, aber noch keinen Fall, den ich der Gerichtsbarkeit übergeben konnte. Nicht einmal Stapletons Angriff auf Sir Henry in jener Nacht, der mit dem Tod des unglücklichen Sträfl ings endete, konnte uns den Beweis eines Mordes liefern. Es gab anscheinend keine Alternative, als ihn auf frischer Tat zu ertappen, und dazu mussten wir Sir Henry benutzen, allein und scheinbar ungeschützt, als Lockvogel. Das taten wir mit dem Risiko, unserem Kunden einen schweren Schock zu verursachen, doch konnten wir unseren Fall erfolgreich abschließen und Stapleton seinem Untergang zuführen. Dass Sir Henry dieser Situation ausgesetzt wurde, ist, das muss ich zugeben, ein Vorwurf gegen die Art, wie ich den Fall gehandhabt habe, aber wir konnten wirklich nicht vorhersehen, welch schreckliches und lähmendes Schauspiel der Hund uns gab, noch konnten wir den Nebel vorhersehen, der es ihm gestattete, erst so spät vor unseren Augen aufzutauchen. Doch erreichten wir unser Ziel zu einem Preis, den mir sowohl der Spezialist als auch Dr. Mortimer als einen vorübergehenden zusicherten. Auf ihrer langen Reise werden sich nicht nur die Nerven unseres Freundes erholen, sondern er wird auch von den seelischen Wunden genesen. Seine Liebe zu Mrs. Stapleton war tief und aufrichtig, und für ihn war der traurigste Teil dieser ganzen dunklen Affäre, dass er von ihr getäuscht wurde.“

   „Bleibt nur noch der Anteil zu klären, den sie an der ganzen Sache hatte. Es kann keinen Zweifel geben, dass Stapleton großen Einfl uss auf sie ausübte, mag es Angst, Liebe oder sehr wahrscheinlich beides gewesen sein, da das zwei miteinander nicht unvereinbare Gefühle sind. Jedenfalls war es letzten Endes wirkungsvoll. Auf seine Anordnung hin gab sie sich als seine Schwester aus, doch erreichte er die Grenzen seiner Macht über sie, als sie ihm direkte Hilfe bei seinen Morden leisten sollte. Sie war bereit dazu, Sir Henry zu warnen, sofern sie das tun konnte, ohne ihren Ehemann zu belasten, was sie mehrfach versuchte. Stapleton selbst war zu Eifersucht fähig, und als er sah, wie der Baronet seiner Frau den Hof machte – obwohl das Teil seines Plans war –, ging er mit einem leidenschaftlichen Gefühlsausbruch dazwischen, wodurch er sein hitziges Gemüt offenbarte, welches sonst sein selbstbeherrschtes Auftreten so geschickt verbarg. Indem er diese Vertrautheit noch ermutigte, stellte er sicher, dass Sir Henry oft nach Merripit House käme und sich ihm so früher oder später die gewünschte Gelegenheit böte. Am Tag der Entscheidung jedoch stellte sich seine Frau plötzlich gegen ihn. Sie hatte vom Tod des Sträfl ings erfahren und wusste, dass der Hund an jenem Abend, als Sir Henry zum Essen kam, im Gartenhaus versteckt war. Als sie ihren Mann mit dem beabsichtigten Verbrechen konfrontierte, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, in deren Verlauf er sie zum ersten Mal wissen ließ, dass sie eine Rivalin hatte. Sofort kehrte sich ihre Treue in erbitterten Hass, und er erkannte, dass sie ihn verraten würde. Daher fesselte er sie, damit sie keine Gelegenheit bekäme, Sir Henry zu warnen, und bestimmt hoffte er, dass, wenn die ganze Grafschaft den Tod des Baronets wie zu erwarten auf den Familienfl uch schieben würde, er seine Frau wieder dazu bringen könne, eine vollendete Tatsache zu akzeptieren und Stillschweigen zu bewahren. Hier hatte er sich meiner Ansicht nach verrechnet, und auch ohne unser Zutun wäre sein Schicksal besiegelt gewesen. Eine Frau von spanischem Blut verzeiht solches Unrecht nicht so leicht. Und jetzt, mein lieber Watson, kann ich dir kein detaillierteres Bild dieses seltsamen Falles geben, ohne in meinen Aufzeichnungen nachzulesen. Mir fällt nichts Wesentliches ein, das unerklärt geblieben ist.“

   „Er konnte nicht darauf bauen, Sir Henry mit seinem Geisterhund ebenso zu Tode zu erschrecken, wie es ihm bei dem alten Onkel gelungen ist.“

   „Die Bestie war wild und halb verhungert. Wenn ihre Erscheinung ihr Opfer nicht schon zu Tode erschreckt hätte, so hätte sie wenigstens den Widerstand gelähmt.“

   „Kein Zweifel. Doch eine Schwierigkeit bleibt. Wenn Stapleton die Nachfolge angetreten hätte, wie hätte er den Umstand erklärt, dass er, der Erbe, unter falschem Namen so nahe am Sitz seiner Familie lebte? Wie hätte er seinen Anspruch geltend gemacht, ohne einen Verdacht und Untersuchungen auszulösen?“

   „Das ist ein außerordentliches Problem, aber ich fürchte, dass du mich zu viel fragst, wenn du von mir erwartest, es zu lösen. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind Gegenstand meiner Nachforschungen, aber was ein Mann in der Zukunft tun könnte, ist eine kaum zu beantwortende Frage. Mrs. Stapleton hat ihren Gatten dieses Problem zu verschiedenen Gelegenheiten diskutieren hören. Dabei ergaben sich drei mögliche Wege: Er hätte sein Recht von Südamerika einfordern, seine Identität den britischen Behörden vor Ort beweisen und so das Vermögen erlangen können, ohne überhaupt nach England zu kommen. Oder er hätte sich für die kurze Zeit, die er sich in London hätte aufhalten müssen, eine ausgefeilte Verkleidung zulegen können; oder aber er hätte einen Komplizen mit den Beweisen und Dokumenten versehen, diesen als Erben ausgegeben und dann von ihm seinen Anteil eingefordert. Nach allem, was wir über ihn wissen, gibt es keinen Zweifel, dass er einen Weg gefunden hätte, diese Schwierigkeit zu umgehen. Und jetzt, mein lieber Watson, hatten wir einige Wochen harter Arbeit, und so könnten wir einen Abend lang unsere Gedanken in eine angenehmere Richtung lenken. Ich habe eine Loge für ‚Die Hugenotten‘. Hast du schon die De Reszkes gehört? Dürfte ich dich dann bitten, in einer halben Stunde ausgehfertig zu sein, dann könnten wir noch bei Marcini‘s vorbei, um ein kleines Abendessen einzunehmen.“