Der Hund der Baskervilles

   Kapitel 14

   Der Hund der Baskervilles

   Es war immer einer von Sherlock Holmes‘ Charakterfehlern – wenn man es denn einen Fehler nennen darf –, dass er eine hohe Abneigung dagegen hatte, seine Pläne anderen Personen vollständig zu offenbaren, bevor der Augenblick ihrer Umsetzung gekommen war. Dies rührte zum Teil sicherlich von seiner herrischen Art her, denn er liebte es, die Menschen seiner Umgebung zu dominieren und zu überraschen, zum anderen lag dies aber in seiner berufl ichen Vorsicht begründet, kein unnötiges Risiko einzugehen. Im Ergebnis war dies jedoch häufi g anstrengend für seine Mitarbeiter und Helfer. Oft genug hatte ich darunter gelitten, doch niemals so sehr wie während dieser langen Fahrt durch die Dunkelheit. Die große Prüfung lag vor uns, endlich sollte der letzte Akt über die Bühne gehen, doch Holmes hatte noch nichts über seine Pläne verlauten lassen, und ich konnte nur raten, was er vorhatte. Ich fi ng vor Aufregung an zu zittern, als der kalte Wind auf unseren Gesichtern und der dunkle, öde Raum zu beiden Seiten der engen Straße mir zeigten, dass wir uns wieder auf dem Moor befanden. Jeder Hufschlag der Pferde und jede Umdrehung der Wagenräder brachten uns unserem spannenden Abenteuer näher.

   Unsere Unterhaltung wurde durch die Anwesenheit des Fahrers der Mietdroschke beeinträchtigt, so dass wir gezwungen waren, über nebensächliche Dinge zu sprechen, während unsere Nerven vor Erwartung gespannt waren. Nach dieser unnatürlichen Zurückhaltung war es für mich eine Erleichterung, als wir schließlich an Franklands Haus vorbeifuhren und wussten, dass wir nunmehr ganz nahe an Baskerville Hall und dem Ort des Geschehens waren. Wir ließen uns nicht vor die Tür fahren, sondern hielten nahe dem Tor zur Auffahrt. Der Wagen wurde bezahlt und nach Coombe Tracey zurückgeschickt, bevor wir uns zu Fuß in Richtung auf Merripit House aufmachten.

   „Sind Sie bewaffnet, Lestrade?“

   Der kleine Polizist lächelte.

   „Solange ich meine Hosen anhabe, habe ich eine Hüfttasche, und solange ich meine Hüfttasche habe, befi ndet sich auch etwas darin.“

   „Gut! Mein Freund und ich sind ebenfalls auf Notfälle vorbereitet.“

   „Sie sind in dieser Angelegenheit ja reichlich verschlossen, Mr. Holmes. Was für ein Spiel wird denn gespielt?“

   „Ein Geduldsspiel.“

   „Meine Güte, das scheint wirklich kein sonderlich fröhlicher Ort zu sein“, sagte Lestrade schaudernd, während er über die düsteren Hänge des Hügels und die große Dunstwolke blickte, die über dem Grimpener Moor lag. „Ich sehe Lichter eines Hauses vor uns.“

   „Das ist Merripit House und das Ziel unserer Reise. Ich muss Sie darum ersuchen, auf Zehenspitzen zu laufen und nur noch zu fl üstern.“

   Vorsichtig gingen wir den Weg entlang, als wollten wir auf das Haus zugehen, doch Holmes stoppte uns, als wir nur noch etwa 200 Meter entfernt waren.

   „Das dürfte reichen“, sagte er. „Diese Felsen hier rechts werden uns vortreffl ich Schutz bieten.“

   „Wir sollen hier warten?“

   „Ja, das wird unser kleiner Hinterhalt. Schlüpfen Sie in diese Höhle, Lestrade. Bist du nicht schon im Haus gewesen, Watson? Dann kannst du uns die Lage der Räume erläutern. Wozu gehören die vergitterten Fenster an diesem Ende?“

   „Ich glaube, das sind die Küchenfenster.“

   „Und das hell erleuchtete dort drüben

   „Das ist bestimmt das Esszimmer.“

   „Die Vorhänge sind zurückgezogen. Du kennst dich hier am besten aus. Schleich dich lautlos nach vorne und sieh nach, was drinnen geschieht, aber sie dürfen um Himmels Willen nicht merken, dass sie beobachtet werden!“

   Auf Zehenspitzen schlich ich den Pfad entlang und duckte mich hinter der niedrigen Mauer, die den vernachlässigten Obstgarten umgab. Solchermaßen in Deckung befi ndlich kroch ich zu einer Stelle, von welcher aus ich direkt in das vorhanglose Fenster hineinsehen konnte.

   Es befanden sich nur zwei Männer im Zimmer, Sir Henry und Stapleton. Sie saßen jeder an einer Seite des runden Tisches, das Profi l mir zugewandt. Beide rauchten Zigarren und hatten Kaffee und Wein vor sich stehen. Stapleton redete sehr lebhaft, aber der Baronet sah bleich und zerstreut aus. Möglicherweise lastete der Gedanke an den einsamen Spaziergang durch das Moor mit seinem schlechten Ruf schwer auf seiner Seele.

   Während ich sie so beobachtete, stand Stapleton auf und verließ das Zimmer; Sir Henry schenkte sich Wein nach und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, wobei er an seiner Zigarre zog. Ich hörte eine Tür knarren und das knirschende Geräusch von Schuhen auf Kies. Die Schritte gingen den Pfad auf der anderen Seite der Mauer, hinter der ich kauerte, entlang. Ich schaute über die Mauer und sah den Naturforscher an der Tür eines Häuschens in einer Ecke des Gartens stehen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und nachdem er hineingegangen war, ertönte von drinnen ein seltsames Geräusch wie von einer Rauferei. Er hielt sich höchstens ein oder zwei Minuten dort auf, dann hörte ich den Schlüssel sich erneut im Schloss drehen. Wieder lief Stapleton an mir vorbei, kehrte in das Haus zurück und setzte sich zu seinem Gast. Ich kroch leise dorthin zurück, wo meine Gefährten darauf warteten, was ich zu erzählen hatte.

   „Du hast gesagt, dass Mrs. Stapleton nicht dort war?“ fragte Holmes, als ich meinen Bericht beendet hatte.

   „So ist es.“

   „Wo kann sie dann sein, da doch nirgends sonst Licht brennt außer in der Küche?“

   „Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte.“

   Wie schon erwähnt hing über dem großen Grimpener Moor ein dichter, weißer Nebel. Langsam trieb er auf uns zu und baute sich wie eine zwar niedrige, aber dicke und undurchdringliche Wand vor uns auf. Der Mond schien auf sie herab und ließ sie wie eine große, glänzende Eisfl äche aussehen, aus welcher die Spitzen der Felstürme in der Ferne wie Klippen herausragten. Holmes drehte sich nach ihr um und murmelte ungeduldig etwas vor sich hin, ihre langsame Bewegung ständig beobachtend.

   „Sie kommt auf uns zu, Watson.“

   „Ist das schlimm?“

   „Sogar sehr schlimm – so ziemlich das einzige, das meine Pläne durcheinander bringen kann. Sir Henry kann jetzt nicht mehr lange bleiben, es ist schon zehn Uhr. Unser Erfolg und sogar sein Leben könnten davon abhängen, ob er herauskommt, bevor sich diese Nebelwand über den Weg geschoben hat.“

   Über uns war die Nacht klar und schön. Kalt und hell strahlten die Sterne, während der Halbmond die ganze Landschaft in ein sanftes, unstetes Licht tauchte. Vor uns lag die dunkle Masse des Hauses, dessen gezacktes Dach und hohen Kamine sich scharf gegen den silbrig schimmernden Himmel abhoben. Aus den unteren Fenstern ergossen sich breite Streifen goldenen Lichts über den Garten und das Moor. Plötzlich erlosch einer von ihnen. Die Dienstboten hatten die Küche verlassen. Nun blieb nur noch die Lampe aus dem Esszimmer übrig, wo die beiden Männer, der mörderische Gastgeber und sein ahnungsloser Gast, immer noch bei ihren Zigarren plauschten.

   Jede Minute schob sich diese weiße, wattige Fläche, die schon eine Hälfte des Moors bedeckte, näher und näher an das Haus heran. Die ersten dünnen Strähnen wehten bereits durch das goldene Rechteck des beleuchteten Fensters, man konnte kaum noch die jenseitige Mauer des Gartens erkennen, vor der die Bäume aus einem Wirbel weißen Dunstes herausragten. Während wir hinsahen, krochen schon Nebelschwaden um beide Ecken des Hauses und fügten sich langsam zu einer dichten Bank zusammen, auf welcher der obere Stock und das Dach wie ein seltsames Schiff auf nächtlicher See zu schweben schienen. Holmes schlug leidenschaftlich mit der Hand auf den Felsen vor uns und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.

   „Wenn er nicht in einer Viertelstunde draußen ist, wird der Pfad vom Nebel bedeckt sein. In einer halben Stunde werden wir unsere Hand nicht mehr vor Augen sehen können.“

   „Sollen wir uns etwas zurückziehen auf höher liegendes Land?“

   „Ja, das wird meiner Ansicht nach ebenso gut sein.“

   Im selben Maße, wie die Nebelbank vorankroch, wichen wir vor ihr zurück, bis wir ein paar hundert Meter vom Haus entfernt waren, doch noch immer wälzte sich dieses dichte weiße Meer, deren Oberfl äche vom Mond silbern beschienen wurde, langsam und unerbittlich vor.

   „Wir sind zu weit weg“, sagte Holmes. „Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass er eingeholt wird, bevor er uns erreicht hat. Unter allen Umständen müssen wir ausharren, wo wir uns befi nden.“ Er kniete sich hin und legte sein Ohr auf den Boden. „Gott sei Dank, ich höre ihn kommen.“

   Das Geräusch schneller Schritte durchbrach die Stille des Moores. Zwischen den Felsen kauernd starrten wir angestrengt auf die Nebelwand vor uns mit ihrer silbernen Oberfl äche. Die Schritte wurden lauter, und durch den Nebel, wie durch einen Vorhang, tauchte der Mann auf, den wir erwartet hatten. Überrascht schaute er sich um, als er in die klare, sternenbeschienene Nacht hinaustrat. Dann schritt er rasch den Weg entlang, lief an unserem Versteck vorüber und stieg den langen Hang hinter uns empor, dabei drehte er sich die ganze Zeit um wie jemand, der sich nicht wohl fühlt.

   „Psst!“ rief Holmes, und ich hörte das scharfe Klicken einer Pistole, die entsichert wurde. „Vorsicht! Er kommt!“

   Von irgendwoher aus dem Innersten dieser wallenden Nebel195 bank kam ein dünnes, kratzendes, regelmäßiges Getrappel. Die Wolke hing etwa fünfzig Meter vor uns, und wir starrten sie alle drei an in der unsicheren Erwartung, was für ein Schrecken wohl aus ihr hervorbrechen würde. Ich lag dicht neben Holmes und schaute ihm einen Moment lang ins Gesicht. Es war bleich und triumphierend, seine Augen leuchteten im Mondlicht. Doch plötzlich erstarrte sein Blick und seine Lippen öffneten sich verwundert. Im selben Moment stieß Lestrade einen Schreckensschrei aus und warf sich mit dem Gesich nach unten auf den Boden. Ich sprang auf, meine Hand griff nach der Pistole, doch mein Geist war wie gelähmt durch das schreckliche Geschöpf, das vor uns aus den Schatten des Nebels hervorgesprungen kam. Es war ein Hund, ein riesiger, pechschwarzer Hund, doch kein Hund, wie ihn sterbliche Augen jemals gesehen haben. Feuer schoss aus seinem offenen Rachen, aus den Augen glühte schwelende Glut, Lefzen und Nacken waren von hellen Flammen umlodert. Kein wahnsinniger Traum eines irren Hirns konnte ein wilderes, entsetzlicheres, höllischeres Ungeheuer erzeugen als diese nachtschwarze Schöpfung mit teufl ischer Fratze, die uns aus der Nebelwand entgegenstürzte.

   Mit langen Sätzen schoss das enorme schwarze Ungeheuer den Weg entlang, unserem Freund dicht auf den Fersen. Wir waren dermaßen gelähmt durch die Erscheinung, dass er an uns vorüber war, bevor wir uns wieder gefasst hatten. Dann feuerten Holmes und ich gleichzeitig, und ein schreckliches Heulen der Kreatur bewies uns, dass wenigstens einer getroffen hatte. Doch blieb sie nicht stehen, sondern hetzte weiter. Weiter vorn auf dem Weg sahen wir, wie Sir Henry sich umdrehte, das Gesicht im Mondlicht kreidebleich, seine Hände voller Entsetzen in die Höhe gestreckt, starrte er hilfl os auf das entsetzliche Untier, das auf ihn zuschoss.

   Doch der Schmerzensschrei des Hundes hatte all unsere Ängste vertrieben. Wenn er verwundbar war, so war er sterblich, und wenn wir ihn verwunden konnten, so konnten wir ihn auch töten. Niemals habe ich jemanden so rennen sehen, wie Holmes in jener Nacht gerannt ist. Ich bin sicherlich gut zu Fuß, aber er hängte mich ebenso sehr ab, wie ich den kleinen Lestrade abhängte. Während wir den Weg entlangstürzten, hörten wir vor uns Schrei auf Schrei von Sir Henry und das tiefe Knurren des Hundes. Ich erreichte sie gerade, als die Bestie ihr Opfer ansprang, es zu Boden warf und nach seiner Kehle schnappte. Doch im nächsten Augenblick hatte Holmes schon fünf Kugeln seines Revolvers in die Flanke des Untiers gejagt. Mit einem letzten Aufheulen, im Todeskampf bösartig um sich beißend, rollte der Hund auf den Rücken, schlug mit allen Vieren um sich und fi el dann reglos auf die Flanke. Keuchend beugte ich mich zu ihm hinunter und drückte die Pistole gegen seinen furchtbaren, glühenden Schädel, doch war es sinnlos abzudrücken. Der riesige Hund war tot.

   Sir Henry lag bewusstlos an der Stelle, wo er gestürzt war. Wir rissen seinen Kragen auf, und Holmes entfuhr ein Stoßgebet der Dankbarkeit, als er sah, dass kein Anzeichen einer Verletzung zu erkennen und die Hilfe rechtzeitig gekommen war. Schon vibrierten die Augenlider unseres Freundes und er machte einen schwachen Versuch aufzustehen. Lestrade schob seine Brandyfl asche zwischen die Lippen des Baronets, der uns mit vor Entsetzen geweiteten Augen anstarrte.

   „Mein Gott“, fl üsterte er, „Was war das? Was um alles in der Welt war das?“

   „Was immer es war, jetzt ist es tot“, sagte Holmes. „Wir haben das Familiengespenst ein für allemal zur Strecke gebracht.“

   Von seiner bloßen Größe und Stärke her war es ein schreckliches Geschöpf, das vor uns ausgestreckt lag. Es war kein reinrassiger Bluthund und keine reinrassige Dogge, sondern schien eine Mischung beider zu sein – hager, wild und so groß wie eine kleine Löwin. Selbst jetzt, da es in der Reglosigkeit des Todes vor uns lag, schien eine bläuliche Flamme von seinen Lefzen zu tropfen und die kleinen, tief liegenden, grausamen Augen waren von Feuer umgeben. Ich legte meine Hand auf das glimmende Maul, und als ich sie in die Höhe hob, glühten und leuchteten meine eigenen Finger in der Dunkelheit.

   „Phosphor“, sagte ich.

   „Und schlau zubereitet“, sagte Holmes, der das tote Tier beschnüffelte. „Es hat keinen Geruch, der sein Witterungsvermögen irritieren könnte. Wir müssen uns zutiefst bei Ihnen entschuldigen, Sir Henry, dass wir Sie diesem Schrecken ausgesetzt haben. Auf einen Hund war ich vorbereitet, doch nicht auf ein Untier wie dieses. Und wegen des Nebels hatten wir kaum Zeit, ihm entgegenzutreten.“

   „Sie haben mein Leben gerettet.“

   „Nachdem wir es erst in Gefahr gebracht haben. Sind Sie kräftig genug aufzustehen?“

   „Geben Sie mir noch einen Schluck von diesem Brandy, dann werde ich zu allem bereit sein. So, wenn Sie mir jetzt aufhelfen würden. Was gedenken Sie nun zu unternehmen?“

   „Sie hierzulassen. Sie sind nicht in der Verfassung für weitere Abenteuer in dieser Nacht. Wenn Sie warten wollen, kann einer von uns Sie nach Baskerville Hall begleiten.“

   Er versuchte sich aufzurichten, doch war er immer noch kreidebleich und zitterte an allen Gliedern. Wir halfen ihm zu einem Felsblock, wo er sich zitternd hinsetzte und sein Gesicht in den Händen vergrub.

   „Wir müssen Sie jetzt hierlassen“, sagte Holmes. „Der Rest unserer Arbeit muss getan werden und jeder Augenblick ist kostbar. Wir haben nunmehr unseren Fall, jetzt brauchen wir nur noch den Täter.“

   „Ich wette tausend zu eins, dass wir ihn nicht zu Hause fi nden werden“, fuhr er fort, als wir rasch unsere Schritte den Weg zurück lenkten. „Die Schüsse dürften ihm verraten haben, dass sein Spiel aus ist.“

   „Wir waren ein ganzes Stück entfernt und der Nebel könnte sie gedämpft haben.“

   „Er folgte dem Hund, um ihn zurückrufen zu können, da können Sie sicher sein. Nein, nein, er ist inzwischen fort! Doch wir werden das Haus durchsuchen, um sicherzugehen.“

   Die Haustür stand offen, also stürzten wir hinein und eilten von Zimmer zu Zimmer zur Verwunderung eines schlotternden alten Dieners, der uns im Flur entgegen kam. Abgesehen vom Esszimmer brannte nirgends Licht, doch Holmes hatte sich eine Lampe geschnappt und ließ keinen Winkel des Hauses unerforscht. Nicht das geringste Anzeichen des Mannes, den wir suchten, war zu fi nden. Im oberen Stock war jedoch eines der Schlafzimmer abgeschlossen.

   „Da ist jemand drinnen“, rief Lestrade. „Ich kann ein Geräusch hören. Öffnen Sie die Tür!“

   Ein unterdrücktes Stöhnen und Röcheln war zu hören. Holmes trat mit der fl achen Seite seines Fußes direkt oberhalb des Schlosses gegen die Tür und sie fl og auf. Mit den Pistolen in der Hand stürmten wir in das Zimmer.

   Doch von dem verzweifelten und trotzigen Schurken, den wir zu fi nden erwartet hatten, war keine Spur zu sehen. Statt dessen bot sich uns ein so seltsamer und unerwarteter Anblick, dass wir einen Moment starr vor Erstaunen stehen blieben.

   Das Zimmer war zu einem kleinen Museum umgestaltet worden und an den Wänden standen Reihen von Kästen mit Glasdeckeln, in welchen sich die Sammlung von Schmetterlingen und Faltern befand, die das Hobby dieses komplizierten und gefährlichen Mannes waren. In der Mitte des Raums stand ein Pfeiler, der dort nachträglich eingebaut worden war, um die alte, wurmzerfressene Holzdecke zu stützen. An diesen Pfeiler war eine Gestalt angebunden, die so sehr in Stofftücher eingehüllt war, dass wir zunächst nicht sagen konnten, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Ein Handtuch war um ihren Hals geschlungen und an der Rückseite des Pfostens befestigt, ein anderes bedeckte die untere Hälfte des Gesichts, über welcher uns zwei dunkle Augen voller Kummer, Scham und mit einem fragendem Ausdruck anstarrten. Im Handumdrehen hatten wir den Knebel entfernt sowie die Fesseln gelöst, und Mrs. Stapleton sank vor uns auf den Fußboden. Als ihr schöner Kopf auf ihre Brust fi el, sah ich den deutlichen roten Striemen eines Peitschenhiebes auf ihrem Nacken.

   „Der Schuft!“ rief Holmes. „Hier, Lestrade, Ihre Brandyfl asche! Setzen Sie sie auf den Stuhl. Sie ist von den Misshandlungen und vor Erschöpfung ohnmächtig geworden.“

   Sie öffnete ihr Augen.

   „Ist er in Sicherheit?“ fragte sie. „Ist er entkommen?“

   „Er kann uns nicht entkommen, Madam.“

   „Nein, nein, ich meine nicht meinen Ehemann. Sir Henry? Ist er in Sicherheit?“

   „Ja.“

   „Und der Hund?“

   „Der Hund ist tot.“

   Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

   „Gott sei Dank! Gott sei Dank! Dieser Schuft! Sehen Sie, wie er mich behandelt hat!“ Sie schob ihre Ärmel hoch und wir sahen mit Entsetzen, dass ihre Arme über und über mit Striemen bedeckt waren. „Aber das war gar nichts! Es sind mein Herz und meine Seele, die er gequält und geschändet hat. Solange ich Hoffnung hatte, dass er mich liebte, konnte ich alles ertragen, Misshandlungen, Einsamkeit, ein Leben voller Enttäuschung, aber jetzt ist mir klar geworden, dass er mich als Werkzeug benutzt hat.“ Während sie sprach, brach Sie in fürchterliches Schluchzen aus.

   „So schulden Sie ihm nichts“, sagte Holmes. „Sagen Sie uns dann, wo wir ihn fi nden können. Haben Sie ihm je bei seinen Untaten geholfen, so helfen Sie jetzt uns und büßen Sie dadurch.“

   „Es gibt nur einen Ort, an den er gefl üchtet sein kann“, antwortete sie. „Es gibt eine alte Zinnmine auf einer Insel inmitten des Moors. Dort hat er seinen Hund versteckt und auch eine Zufl ucht vorbereitet. Bestimmt ist er dorthin gefl ohen.“

   Die Nebelbank lag wie weiße Wolle vor dem Fenster. Holmes beschien sie mit der Lampe.

   „Sehen Sie“, sagte er. „Niemand kann in dieser Nacht den richtigen Weg durch das Grimpener Moor fi nden.“

   Sie lachte und schlug die Hände zusammen. Ihre Augen und Zähne blitzten vor grimmiger Freude.

   „Er mag den Weg hinein fi nden, aber niemals wieder heraus“, rief sie. „Wie kann er heute Nacht die Stecken fi nden, die ihn führen? Wir haben sie zusammen gepfl anzt, er und ich, um den Weg durch das Moor zu markieren. Oh, hätte ich sie nur heute herausgerissen! Dann wäre er Ihnen wirklich ausgeliefert!“

   Es war offensichtlich, dass jede Verfolgung sinnlos war, bevor sich der Nebel verzogen hatte. So ließen wir Lestrade in Stapletons Haus zurück, während Holmes und ich mit dem Baronet nach Baskerville Hall zurückkehrten. Die Wahrheit über die Stapletons konnte ihm nicht länger verheimlicht werden, doch hielt er dem Schlag tapfer stand, als wir ihm über die Frau berichteten, die er geliebt hatte. Doch hatte der Schrecken der nächtlichen Abenteuer seine Nerven angegriffen, und bevor der Morgen graute, lag er mit hohem Fieber darnieder und Dr. Mortimer pfl egte ihn. Die beiden mussten erst zusammen eine Weltreise unternehmen, damit Sir Henry wieder der gesunde und kräftige Mann wurde, der er gewesen war, bevor er der Herr dieses verwünschten Anwesens wurde.

   Und nun will ich rasch zum Ende dieser ungewöhnlichen Erzählung kommen, in welcher ich mich bemüht habe, den Leser an all jenen düsteren Ängsten und vagen Befürchtungen teilhaben zu lassen, die unser Leben so lange verdunkelt haben und auf so tragische Weise endeten. Am Morgen nach dem Tod des Hundes hatte sich der Nebel gelichtet, und Mrs. Stapleton führte uns zu der Stelle, wo sie einen Weg durch das Moor markiert hatten. Es half uns, die Leiden im Leben dieser Frau zu verstehen, als wir den Eifer und die Freude sahen, mit welcher sie uns auf die Fährte ihres Mannes brachte. Wir ließen sie auf einer sicheren und soliden Halbinsel zurück, die in das sich um sie herum ausbreitende Moor hineinragte. Von dort aus zeigten uns hier und dort angepfl anzte Stecken den Weg, der im Zickzack zwischen mit grünem Schaum bedeckten Tümpeln und übel riechenden Morastlöchern, die dem Fremden den Durchgang versperrten, entlang führte. Schlanke Gräser und üppige, schleimige Wasserpfl anzen sonderten einen modrigen Geruch und schwere Ausdünstungen ab, während ein falscher Schritt uns mehr als einmal tief in dem dunklen, schmatzenden Moor versinken ließ, das viele Meter weit um unsere Füße herum vor sich hin waberte. Sein zäher Griff packte unsere Knöchel, während wir liefen, und wenn wir einsanken, schien es, als ob eine heimtückische Hand uns in diese widerwärtigen Tiefen ziehen wollte, so fest und hinterhältig griff der Sumpf nach uns. Nur einmal sahen wir eine Spur davon, dass jemand vor uns schon diesen gefährlichen Weg gegangen war. Inmitten eines Büschels Riedgrases, das aus dem Schleim aufragte, lag etwas Dunkles. Holmes versank bis zur Hüfte im Schlamm, als der den Pfad verließ, um es aufzuheben, und wären wir nicht bei ihm gewesen, um ihn herauszuziehen, er hätte wohl nie mehr seinen Fuß auf festen Grund gesetzt. Er hielt einen alten, schwarzen Schuh in die Luft. „Meyers, Toronto“, war auf die Innenseite des Leders gedruckt.

   „Das war das Schlammbad wert“, sagte er. „Es ist der vermisste Schuh unseres Freundes Sir Henry.“

   „Von Stapleton auf seiner Flucht dort weggeworfen.“

   „So ist es. Er behielt ihn in seiner Hand, nachdem er ihn benutzt hatte, um den Hund auf die richtige Fährte zu bringen. Als er merkte, dass das Spiel aus war, fl oh er und hielt ihn dabei noch immer in der Hand. Erst an dieser Stelle warf er ihn fort. Wenigstens wissen wir, dass er sicher bis hierhin gekommen ist.“

   Doch mehr als das sollten wir niemals erfahren, auch wenn wir eine Menge vermuteten. Es gab keine Möglichkeiten, Fußabdrücke im Moor zu fi nden, da der Schlamm sie umgehend wieder füllte, aber als wir schließlich wieder festeren Boden erreichten, suchten wir gründlich nach ihnen, doch haben wir niemals nur das kleinste Anzeichen gefunden. Wenn der Boden uns die Wahrheit erzählte, hat Stapleton diese Zufl uchtsinsel, die er durch den Nebel jener letzten Nacht ansteuerte, nie erreicht. Irgendwo inmitten des großen Grimpener Moores, versunken im fauligen Schleim des Morastes, der ihn nach unten gezogen hatte, liegt dieser eiskalte und grausame Mann für immer begraben.

   Auf der vom Moor umschlossenen Insel, wo er seinen wilden Helfer verborgen hatte, fanden wir einige Spuren von ihm. Ein großes Steuerrad und ein halb verschütteter Schacht zeigten uns, wo sich die verlassene Mine befunden hatte. Daneben lagen die verfallenen Reste von Behausungen der Minenarbeiter, die zweifellos von den sie umgebenden fauligen Dünsten vertrieben worden waren. In einer von ihnen zeigten uns ein Ring mit Kette und eine Anzahl abgenagter Knochen, wo der Hund gehalten worden war. Zwischen den Abfällen lag ein Skelett, an welchem noch ein Büschel brauner Haare hing.

   „Ein Hund“, sagte Holmes. „Bei Jupiter, ein kraushaariger Spaniel. Der arme Mortimer wird seinen Schoßhund niemals wiedersehen. Nun, ich glaube nicht, dass dieser Ort noch ein Geheimnis enthält, das wir nicht schon entdeckt haben. Er konnte zwar seinen Hund verbergen, aber er konnte sein Heulen nicht abstellen, daher dieses Heulen, das auch bei Tageslicht nicht schön anzuhören war. Für den Notfall konnte er den Hund auch in seinem Gartenhaus unterbringen, aber das war immer ein Risiko, das er erst an jenem Tag einging, den er als Erfüllung seiner Mühen ansah. Diese Paste in der Dose ist ganz klar die Leuchtfarbe, mit welcher der Hund bemalt wurde. Natürlich wurde das von der alten Familienlegende des Höllenhundes angeregt und durch die Idee, den alten Sir Charles zu Tode zu erschrecken. Kein Wunder, dass der arme Sträfl ing, ebenso wie unser Freund und wir es selbst wohl auch getan hätten, vor Todesangst davonlief und schrie, als er diese Kreatur durch die Dunkelheit über das Moor ihm nachjagen sah. Es war ein schlauer Plan, denn abgesehen von der Möglichkeit, dein Opfer zu Tode zu erschrecken, welcher Bauer würde es wagen, ein solches Geschöpf, falls er ihm auf dem Moor begegnen würde, näher zu untersuchen? Ich habe es dir in London gesagt, Watson, und sage es wieder, niemals haben wir einen gefährlicheren Mann verfolgt als jenen, der irgendwo hier unten liegt...“ Er zeigte mit seinen langen Armen auf die unendliche Fläche des grün-gesprenkelten Moores, das sich vor uns bis zu den weit in der Ferne liegenden roten Hängen der Hügel erstreckte.